Sonntag, 30. August 2020

Der Trade-Off von Corona-Toten und Arbeitslosigkeit in den USA

David Hamermesh nimmt in seinem Beitrag Trading off lives for jobs zum Zuammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und den Corona-Sterbefällen wie folgt Stellung:
Es gibt einen Zielkonflikt - verlorene Leben gegen wirtschaftliche Verluste - im Hinblick auf die Lockerung der Beschränkungen für wirtschaftliche Aktivitäten während der Covid-19-Krise. Alle Wirtschaftswissenschaftler wissen das, obwohl es uns oft peinlich ist, öffentlich zu erklären, dass es dieses Dilemma gibt. Aber es ist sinnvoll, zu versuchen, dieser Zusammenhang zu messen, da dies Grundlage für die Entscheidung ist, vor der die politischen Entscheidungsträger stehen – ob sie bereit sind, dies anzuerkennen oder nicht. 
Ökonomen schätzen den Wert eines Lebens in den USA auf 10 Millionen Dollar (ich weiß, es klingt krass, dies zu tun). Diese Berechnung wurde unzählige Male von Regierungen bei der Entscheidung über Investitionen in verschiedene Bau- und andere Projekte herangezogen. Die beste Schätzung, die ich über die Zahl der während der Krise verlorenen Arbeitsplätze gesehen habe, geht davon aus, dass für jedes durch soziale Distanzierung, Unternehmensschließungen und ähnliche Maßnahmen gerettete Leben etwa 200 Arbeitsplätze verloren gehen.
Ein Leben, das für 200 verlorene Arbeitsplätze gerettet wird, mag wie ein inakzeptabler Kompromiss klingen, wie es für diejenigen eindeutig eindeutig erscheint, die auf eine rasche Wiedereröffnung der Volkswirtschaften drängen. Aber das Leben eines Menschen ist für immer verloren, während die 200 Arbeitsplätze vorübergehend verloren gehen, vielleicht höchstens ein halbes Jahr (was viel länger ist als die durchschnittliche Dauer von Arbeitslosigkeitszeiten in den USA). Wenn es sich bei dem Arbeitnehmer um den durchschnittlichen US-Arbeitnehmer handelt, der 40.000 USD/Jahr verdient, betragen die Kosten der verlorenen Arbeitsplätze pro gerettetem Leben 4 Millionen USD (200 Arbeitsplätze x 40.000 USD/Jahr x ½ Jahr). Vergleicht man die beiden Zahlen, 10 Millionen Dollar pro gerettetem Leben gegenüber 4 Millionen Dollar für verlorene Arbeitsplätze, so ist die richtige Wahl ziemlich klar - man sollte sich nicht beeilen, die Wirtschaft wieder zu öffnen.
Die meisten Todesopfer sind ältere Menschen, und viele Leute würden argumentieren, dass 10 Millionen Dollar ein zu hoher Wert des Lebens für jemanden in den 70er Jahren sind (obwohl ich im Alter von 76 Jahren vehement gegen dieses Argument protestiere!) Aber selbst wenn man 5 Millionen Dollar pro verlorenem Leben nimmt, übersteigt dies immer noch die wahrscheinlichen wirtschaftlichen Verluste in Form von Arbeitsplatzverlusten (und damit den Verlust von Gütern und Dienstleistungen). 
Ein weiteres Thema, das in dieser Diskussion zu oft ignoriert: Die verlorenen Leben sind nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt. Nicht nur alte Menschen, sondern auch Arme und Minderheiten sind unverhältnismäßig stark unter den Opfern von Covid-19 vertreten. Dies könnte einige Ökonomen veranlassen, ihre Schätzung des Wertes der verlorenen Leben noch weiter zu senken, aber selbst für einen Ökonomen wäre das äußerst extrem.
Darüber hinaus gehören viele derer, die für eine rasche Wiedereröffnung der Volkswirtschaften plädieren - zum Beispiel führende Politiker - zu den reichsten Menschen der Gesellschaft. Es ist unwahrscheinlich, dass die Wiedereröffnung der Wirtschaft sie und ihre wohlhabenden Freunde beeinträchtigen würde. Für die eigenen Vorteile einzutreten, für die andere die Kosten tragen müssen, lässt sich moralisch kaum vertreten.
Es ist vernünftig zu argumentieren, dass es einen Kompromiss zwischen dem Verlust eines Arbeitsplatzes und der Lebenserwartung gibt, sofern man die Vergleiche richtig anstellt. Dabei ist es falsch, die Tatsache zu ignorieren, dass die Lasten und Kosten nicht von allen gleichermaßen getragen werden, sondern dass der Verlust von Menschenleben unverhältnismäßig stark von den am Schwächeren getragen wird. Zwar können die wirtschaftlichen Verluste auch für Minderheiten und Arme unverhältnismäßig hoch sein, aber eine finanzielle Entschädigung durch staatliche Programme kann einen Großteil dieser Verluste kompensieren. Nichts kann aber die Verluste an Menschenleben ausgleichen.
Also: Selbst unter dem zynischen Gesichtspunkt einer Kosten-Nutzen-Analyse, bei der Leben mit Geld bewertet werden,  kann man eine Lockerung der Restriktionsmassnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus für die USA nicht befürworten - und schon gar nicht für Deutschland, wo die sozialen und wirtschaftlichen Kosten deutlich geringer sind als in den USA - man denke nur an das Kurzarbeitergeld, das es in den USA nicht gibt.

Mir scheint dass die Kritiker an den Corona-Einschränkungen, ähnlich wie die Klima-Skeptiker, hochgradig  irrational und emotional agieren, (auch die Professoren unter ihnen): Sie wollen diese Probleme einfach nicht wahr haben und weigern sich, die Möglichkeit eines Lebens mit den Corona-Restriktionen für einige weitere Monate oder Jahre in Betracht zu ziehen, falls dies erforderlich sein sollte. Sie leugnen deshalb diese realen Gefahren und versuchen ihre Leugnung durch Handlungen zu untermauern, nach dem Motto: Ich gehe durch den Wald und habe Angst, aber  sage fortwährend laut zu mir: "Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst, ...." bis ich es selbst glaube - und dann überfallen werde.

Mit anderen Worten: Ich sehe die Corona-Proteste als Bestärkung einer emotional entlastenden Selbsttäuschung durch affirmative Rituale, als Realitätsverleugnung.

Ein irisches Sprichwort sagt: Niemand ist so blind wie diejenigen, die nicht sehen wollen.

Mittwoch, 17. Juni 2020

Preise für Corona-Tests in der freien Marktwirtschaft der USA


Gibson Diagnostic Labs in Irving, Texas
(Dylan Hollingsworth für The New York Times)
 Die New York Times berichtete am 16.Juni:
In einem einstöckigen Backsteingebäude im Vorort von Dallas, zwischen einer Zahnarztpraxis und einer Klinik für Familienmedizin, befindet sich ein medizinisches Labor, das einige der teuersten Coronavirus-Tests in Amerika durchgeführt hat.
Die Versicherer haben Gibson Diagnostic Labs bis zu 2.315 Dollar für einzelne Coronavirus-Tests gezahlt. ... Das Unternehmen verfügt über keine spezielle oder andere Technologie als beispielsweise große Diagnostiklabors, die 100 Dollar verlangen. ... Wie kann ein einfacher Coronavirus-Test in einem Labor 100 Dollar kosten und in einem anderen 2.200 Prozent mehr? Dies ergibt sich aus einer grundlegende Gegebenheit des amerikanischen Gesundheitssystems zurück: Die Regierung reguliert die Gesundheitspreise nicht.
Manche Krankenkassen müssen solche Testkosten eben erstatten, wenn sie in Rechnung gestellt werden.....
Angesichts derartiger Fehlentwicklungen sollte man vielleicht die jetzige Regelung in Deutschland genauer überdenken.





Mittwoch, 20. Mai 2020

Die Corona-Krise wird die Lohndisparitäten innerhalb der Euro-Zone verstärken

Die Süddeutschen Zeitung berichtet über berechtigte Befürchtungen der Europäischen Kommission:
Die Kommission registriert mit Unbehagen, dass es riesige Unterschiede gibt beim Niveau der Corona-Staatshilfen der einzelnen Mitgliedsländer. Kommissions-Vizepräsidentin Margrethe Vestager klagte in einem SZ-Interview, dies könne den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt verzerren. Ein EU-Programm für Kapitalspritzen könnte die Unterschiede zumindest teilweise verringern.
Tatsächlich werden sich die Wettbewerbsdisparitäten innerhalb der Euro-Zone nochmals verstärken. Schon vor der Corona-Krise hatte Deutschland wegen eines relativ zur  wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gesehen zu niedrigen Lohnniveaus einen massiven Außenhandelsüberschuß. Andere Länder der Eurozone hatten umgekehrt wegen eines relativ zu hohen Lohnniveaus wirtschaftliche Probleme. Auf dieses Problem ist wiederholt hingewiesen  worden. Ich selbst habe einen Vorschlag zur Behandlung dieses Problems gemacht.

Das Problem wird nun durch die stärkere Förderung der deutschen Wirtschaft gegenüber anderen Wirtschaften  verschärft. Um dem entgegenzuwirken bräuchte es höhere Lohnsteigerungen in Deutschland und geringere Lohnsteigerungen in den problematischeren Mitgliedsländern. Ansonsten muss dort eine zunehmende Arbeitslosigkeit erwartet werden. Der Euro wird das nicht aushalten und der Schaden für alle - auch für Deutschland - wäre groß.

Der Vorschlag von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron würde diesem Effekt entgegenwirken und ist zu begrüßen. Das grundsätzliche Problem wird er aber nicht beseitigen.


Mittwoch, 29. April 2020

Paul Krugman zur Staatsverschuldung wegen Corona

Viele machen sich wegen der aufgrund der durch die Corona-Krise notwendige Staatsverschuldung Sorgen. Diese Sorgen sind m.E.übertrieben und grenzen an Panikmache. (Die Wirtschaftswoche etwa spricht von der "globalen Schuldenbombe".) In seinem Blog erläutert Paul Krugman, dass Staatsschulden Schulden sind die wir uns selbst schulden:

Wir leisten also Katastrophenhilfe im großen Stil: Arbeitslosenversicherung, Hilfe für kleine Unternehmen und vieles mehr. Sie ist immer noch unzureichend, und ein großer Teil des Geldes kommt immer noch nicht bei den Menschen an, die es am meisten brauchen. Aber lassen Sie das einmal beiseite und fragen Sie: Wie bezahlen wir das?
Die unmittelbare Antwort ist, dass die Bundesregierung das Geld leiht. Neue Projektionen des Congressional Budget Office deuten darauf hin, dass die Staatsverschuldung als Anteil des Bruttosozialprodukts bis Ende nächsten Jahres rund 30 Punkte höher sein wird als Ende 2019.

Aber wem wird dieses Geld geschuldet werden? Die Antwort lautet: mir - und Leuten wie mir. Das heißt, diejenigen, die immer noch mehr oder weniger ihr normales Einkommen erhalten, geben weniger aus und sparen mehr - ja, wir kaufen mehr Lebensmittel und Alkohol, aber das wird bei weitem durch geringere Ausgaben für Restaurants und Urlaubsreisen aufgewogen. Und diese Ersparnisse werden auf die eine oder andere Weise über die Bundesregierung in Hilfe für die weniger Glücklichen umgewandelt.

Ein Teil des Recyclings erfolgt direkt: Meine Frau und ich haben in der Tat einige US-Staatsanleihen gekauft. Das meiste davon ist indirekt: Sie legen mehr Geld auf Ihr Bankkonto, die Bank sammelt zusätzliche Reserven auf ihrem Konto bei der Zentralbank an, und die Zentralbank kauft Staatsanleihen. Aber die Details sind nicht besonders wichtig. Grundsätzlich hilft die Regierung einer Gruppe von Amerikanern, indem sie bei einer anderen Gruppe von Amerikanern Kredite aufnimmt.
Man könnte sich fragen, wie das Geld zurückgezahlt wird; tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es nie zurückgezahlt wird, was in Ordnung ist, aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal. Es gibt auch potenzielle Probleme, die durch eine hohe Staatsverschuldung entstehen, obwohl es ehrlich gesagt unwahrscheinlich ist, dass die US-Schulden in nächster Zeit zu einem echten Problem werden.

Der springende Punkt für den Augenblick ist jedoch, dass diese schuldenfinanzierte Katastrophenhilfe nicht auf Kosten des zukünftigen Wachstums Amerikas geht; sie macht das Land nicht ärmer, und sie betrügt auch nicht zukünftige Generationen. Die Schulden, die wir jetzt machen, sind Geld, das wir uns selbst schulden.
Für Deutschland oder Europa kann man das Gleiche sagen.