Sonntag, 18. Oktober 2015

Die Reservearmee der Überqualifizierten

Im Zuge der Flüchtlingskrise werden Forderungen laut, den Mindestlohn für die Flüchtlinge abzuschaffen. Die Flüchtlinge seien überwiegend nur gering qualifiziert. Deshalb würden sie nur Einstellung finden, wenn sie billiger wären als die heimischen Arbeitskräfte.

Das Argument übersieht, dass wir eine massive und stetig zunehmende Überqualifikation in nahezu allen Segmenten des Arbeitsmarktes vorfinden: Leute mit abgeschlossener Berufsausbildung arbeiten in Tätigkeiten, für die ein solcher Abschluss nicht erforderlich ist, Leute mit akademischem Abschluss arbeiten in Tätigkeiten, für die kein akademischer Abschluss erforderlich ist, usw. - bis hin in den Niedriglohnbereich, in dem viele arbeiten, die über die gleiche Qualifikation verfügen wie Arbeitskräfte im regulären Arbeitsmarkt.

Das Überqualifikationsphänomen zeigt sich besonders deutlich im Kunjunkturverlauf: Bei guter Konjunktur ist die Durchschnittsqualifikation der Neueinstellungen deutlich geringer als bei schlechter Arbeitsmarktlage, obwohl die Arbeitskräfte die gleichen Tätigkeiten ausführen. Dies ist in einer groß angelegten Untersuchung festgestellt wurde. Das Phänomen der steigenden Überqualifikation hat natürlich Ursachen, die man nicht einfach wegwünschen kann, wie ich in einem Beitrag dargelegt habe, in dem sich auch einige Graphiken zur steigenden Überqualifikation finden.

Bei den vorhandenen Beschäftigten finden sich also massive Qualifikationsreserven, die man durch Nachfrageexpansion nutzen kann. Dann werden im Bereich der Tätigkeiten mit hohen Qualifikationsanforderungen mehr Kräfte gebraucht, die aus dem Pool der Überqualifizierten im niedrigeren Arbeitsmarktsegment rekrutiert werden können. In diesem zweiten Segment werden dann zusätzlich Beschäftigte benötigt, die aus den 3. Segment eingestellt werden können, und so weiter. Letztlich werden dann im Bereich der Tätigkeiten, die nur geringe Qualifikation benötigen, Stellen für gering qualifizierte Bewerber frei.

Das Problem dabei ist aber, dass eine solche Nachfrageexpansion zu Lohnsteigerungen in allen Arbeitsmarktsegmenten führt, denn die Unternehmungen werden auf eine Verknappung des Arbeitsangebotes, wie es dann ja in allen Segmenten auftritt gleichzeitig mit einer Senkung der Einstellungsanforderungen und einer Erhöhung der Lohngebote reagieren. Die Senkung der Einstellungsanforderungen ist O.K., denn sie ermöglicht die Einstellung der Überqualifizierten aus dem darunter liegenden Segment, die vorher diesen Anforderungen nicht genügt haben, Die Lohnsteigerungen führen aber zu Kostensteigerungen und damit zu Preissteigerungen. Dies ist zwar in der gegenwärtigen Konjunktursituation erwünscht, kann aber in anderen Konjunkturlagen durch Lohnindexierung aufgefangen werden, wie ich hier dargelegt habe.


Kurz: Die Gegner des Mindestlohnes wärmen nun ihre Doktrin mit Hinweis auf den Zustrom der Flüchtlinge auf. Der grundlegende Fehler, von dem sie nicht ablassen, liegt darin, die Einstellungsanforderungen für die verschiedenen Teilarbeitsmärkte als technologisch-organisatorisch fixierte Größen zu betrachten und die Teilarbeitsmärkte als separate Märkte, analog zu separaten Märkten für verschiedene Güter, anzusehen. Das ist falsch. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Teilarbeitsmärkten ergibt sich daraus, dass es sich bei den Einstellungsanforderungen ebenso wie bei der Lohnbildung um Marktphänomene handelt, die auf Änderungen von Knappheiten reagieren und die eben auch  Ineffizienzen, wie etwa die Reservearmee der Überqualifizierten, hervorbringen.

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