Freitag, 6. Januar 2012

Die missverstandene Ricardianische Äquivalenz (1)

Kritiker keynesianischer Überlegungen zur Staatsverschuldung beziehen sich oft, wenngleich meist recht vage, auf die sogenannte "Ricardianische 'Äquivalenz" die besagt dass für ökonomisch rational handelnde Wirtschaftssubjekte das Lebenseinkommen für den Konsum entscheidend ist und nicht das laufende Einkommen. Deshalb werden Steuersenkungen heute, bei entsprechenden zusätzlichen Steuern in der Zukunft, keinerlei Wirkung auf die Nachfrage haben, so lange eben das Lebenseinkommen (inklusive des Lebenseinkommens nachfolgender Generationen) nicht verändert wird.

Dies ist eine einfache Überlegung zu intertemporalen Budgetbeschränkungen, sowohl des Staates, als auch bei den Privaten, die selbst in ihrer reinsten Form keinerlei Schlüsse über die Höhe und Wirkung der Staatsverschuldung impliziert. Sie wird aber doch oft in dieser Weise fehlgedeutet. Ich werde in diesem Blog einige dieser Fehldeutungen besprechen.

Der (an sich recht ordentliche) Artikel in der deutschen Wikipedia zu diesem Thema (Stand: 5.1.2012) illustriert eine milde, aber sehr verbreitete Form dieses Missverständnisses:
Diesem ökonomischen Standpunkt zufolge sind die Wirtschaftssubjekte in der Lage zu erkennen, dass eine Steuersenkung heute, die in der Zukunft zu höheren Steuern führt, nicht ihr Vermögen über die Lebenszeit beeinflusst. Somit werden die Wirtschaftssubjekte das zusätzliche Einkommen, das sie durch die Steuersenkung erhalten, sparen und nicht für zusätzlichen Konsum ausgeben. Eine so angelegte fiskalpolitische Maßnahme würde also keinen positiven Effekt auf die konjunkturelle Situation der Volkswirtschaft ausüben können.
Diese Formulierung suggeriert stillschweigend, aber unzutreffend, eine Steuersenkung heute müsse notwendigerweise zu Steuererhöhungen in der Zukunft führen die das Lebenseinkommen unverändert ließen und damit keinen Einfluss auf die laufende Nachfrage ausüben würden.

Dies ist aber unzutreffend. Selbst unter idealen Bedingungen müssen Steuersenkungen heute nicht notwendigerweise zu gleichwertigen (d.h. das Lebenseinkommen unberührt lassenden) Steuererhöhungen in der Zukunft führen. 

Um den Fehler zu sehen, kann man den Fall eine Wirtschaft betrachten, die nominal mit 4% wächst (2% Inflation und 2% Wirtschaftswachstum, aber das dient nur zur Illustration, der Leser kann andere Zahlen einsetzen). Der Staat beginnt mit einem ausgeglichenen Haushalt (Einnahmen=Ausgaben, keine Staatsschuld) und senkt nun die Steuern so, daß sein Defizit 4% des Bruttoinlandsproduktes beträgt. Die Staatsschuld wird dann wachsen, denn in jedem Jahr werden neue Schulden aufgenommen. Das prozentuale Wachstum der Staatsschuld ist gleich dem Defizit geteilt durch die Staatsschuld:

                                                          Defizit
Wachstumsrate der Staatsschuld =   -----------------------------
                                                            Staatsschuld

Da anfangs die Staatsschuld gering ist,  ist das prozentuale Wachstum der Staatsschuld zunächst hoch. Mit zunehmender Staatsschuld wird das prozentuale Wachstum der Staatsschuld geringer. Hat die Staatsschuld 100% des Bruttoinlandsproduktes erreicht, so wird sie mit der Wachstumsrate von 4% wachsen. Hätte der Staat nur ein permanentes Defizit von 2% gefahren, so hätte sich die Staatsschuld auf einem Niveau von 50% des Bruttoinlandsproduktes stabilisiert. Eine solche dauerhafte Staatsschuld erfordert zur "Finanzierung" nicht, dass irgendwann in der Zukunft die Steuern erhöht werden und führt auch zu keinen Finanzierungsproblemen.

Man könnte nun einwenden, dass mit zunehmender Staatsschuld die Zinszahlungen des Staates an die Privaten Kreditgeber entsprechend zunehmen. Deshalb "nützt" eine Staatsverschuldung nichts, denn auf die Dauer wird das Defizit von den Zinszahlungen "aufgefressen" und ein "wirkliches" Defizit ist damit langfristig unmöglich.

Diese Überlegung ist aber insofern irreführend, als das Defizit nicht dazu dient, Staatsausgaben zu "finanzieren" sondern die Nachfrage zu stützen. Dies wird erreicht, wenn die Steuern gesenkt werden und wenn Zinszahlungen geleistet werden, die ja ebenfalls Einkommen darstellen. Man denke an den Grundsatz der funktionalen Finanzpolitik dass alle Maßnahmen allein in Hinblick auf ihr Ergebnis getroffen werden sollten und nicht nach irgendwelchen traditionellen Vorstellungen über gesunde oder ungesunde Finanzpolitik. Wenn es darum geht, die verfügbaren Einkommen zu erhöhen, wird dieses Ziel mittels permanenter Steuersenkungen erreicht.

Außerdem ist die Überlegung, dass der "Finanzierungsspielraum des Staates" durch Defizite eingeschränkt wird, in vielen Situationen einfach unzutreffend. Nehmen wir an, der Zinssatz sei 5%. Bei einem permanenten Defizit von 4%  beträgt die langfristige Staatsschuld 100% des Bruttoinlandsproduktes. Mithin muss der Staat 5% des Bruttoinlandsproduktes an Zinslasten permanent tragen, also mehr als das Defizit. Allerdings muss dann aber berücksichtigt werden, dass die Zinseinkünfte der Einkommenssteuer oder Abgeltungssteuer unterliegen. Werden die Zinseinkünfte beispielsweise (und der Einfahheit halber) mit einem Steuersatz von 20% besteuert, so fließt ein Fünftel der Zinszahlungen als Steuereinnahme an den Staat zurück. Netto muss der Staat dann 4% Zinsen zahlen. Das Defizit kann dann also gerade die Zinszahlungen "finanzieren". Wenn das Defizit auf Steuersenklungen beruht, die die Nachfrage stärken sollen, so wird das Ziel erreicht: Die verfügbaren Einkommen steigen aufgrund der Steuersenkungen und der Zinszahlungen und die verfügbaren Mittel des Staates werden nicht verändert. Liegt die Besteuerung der Zinseinkünfte über 20%, so wird in diesem Beispiel das Defizit nur zum Teil für Zinszahlungen verwendet. Liegt die Besteuerung unter 20%, so muss allerdings ein Teil der Zinszahlungen aus dem laufenden Budget zugeschossen werden. Auf jeden Fall aber wird das Defizit kurzfristig und langfristig nachfragewirksam sein. Das Ziel wird erreicht, selbst dann, wenn gar nicht eingerechnet wird, dass die Nachfragestärkung zu höheren Einkommen und höheren Steuereinnahmen führt.

Nebenbei: Wenn die Kredite zur Finanzierung des Defizits bei der Zentralbank aufgenommen werden, erfolgen die Zinszahlungen an die Zentralbank. Dies sind dann Gewinneinkünfte der Zentralbank, die  vollständig ins Staatsbudget zurückfließen. Auch hier wird natürlich das Ziel der Nachfragestärkung erreicht.

Der grundsätzliche Fehler von vielen Überlegungen in diesem Zusammenhang ist, daß sich die Schuldenproblematik in einer wachsenden (möglicherweise auch nur nominal wachsenden) Wirtschaft anders stellt als in einer stationären Wirtschaft. Die Diskussion um die Ricardianische Äquivalenz vollzieht sich oft vor einem gedanklichen Hintergrund, der in einer stationären Wirtschaft zutreffend sein mag, in einer wachsenden Wirtschaft aber wirklich irreführend ist.

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Die Grenze der Staatsschuld liegt nicht in irgendwelchen Finanzierungsproblemen sondern darin, dass der Staat nicht so viel ausgeben darf, dass Inflation entsteht. Das kann  bedeuten, dass er weniger ausgeben sollte als er einnimmt, das kann aber auch bedeuten, dass er mehr ausgeben sollte als er einnimmt. Mit der "Finanzierungsseite" hat das überhaupt nichts zu tun, denn die Staatsschuld wächst langfristig immer mit der gleichen Wachstumsrate wie das Inlandsprodukt.

Genaueres dazu findet man in meinem Beitrag zu diesem Thema (pdf). Es gibt auch eine inoffizielle deutsche Fassung (pdf)  die aber nicht von mir stammt.


Nachtrag (17.1.2012). Ich sollte anmerken dass die hier dargestellten Überlegungen bereits 1976 von Martin Feldstein publiziert wurden.

Nachtrag (24.2.2013) Nachtrag (1.2.2013). Ich sollte außerdem anmerken, dass die Äquivalenzthese tatsächlich theoretisch falsch ist und auf dem Irrtum beruht, dass Zinseinkommen der privaten Haushalte aus Staatsschulden nicht zum verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte gerechnet werden, wie ich in einem späteren Blog erwähnt habe.

Nachtrag (24.11.2013) Tatsächlich war meine Argumentation bezüglich der Ricardianischen Äquivalenzthese fehlerhaft. Ich bin einem Fehler in  einer von Barros Arbeiten aufgesessen. The Ricardianische Äquivalenzthese ist tatsächlich zutreffend. Ich habe ein entsprechendes Erratum geschrieben in dem ich meinen Fehler klarstelle. Diese Notiz wird demnächst in Metroeconomica erscheinen. Ich bitte bei den Lesern dieses Blogs ebenso wir bei den beteiligten Herausgebern und Gutachtern um Entschuldigung und werde meinen Irrtum demnächst in einem Blog nochmals klarstellen..   

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